Insolvenzen: Ein Kollateralschaden der Pandemie?

Die durch die Coronakrise ausgelösten Umsatzeinbußen haben viele deutsche Unternehmen in Existenznot gebracht. Dem gegenüber steht allerdings ein erstaunlicher Effekt: Die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland ist während der Pandemie sogar gesunken. Das zeigt ein Blick in die neu zusammengestellte Insolvenzdatenbank des TRR 266. Doch eine Warnung: „Je weniger, desto besser“ gilt in diesem Fall nicht. Erfahren Sie, was es hiermit auf sich hat, wieso ein Neustart der Wirtschaft nach der Pandemie erschwert werden könnte und warum Insolvenzforschung so wichtig ist.

Insolvenzen haben zu Unrecht einen schlechten Ruf. Sie sind zentraler Bestandteil des Wirtschaftslebens und ermöglichen, dass Ansprüche an finanziell in Schieflage geratene Unternehmen koordiniert abgewickelt werden können. Nicht lebensfähige Unternehmen nimmt das Insolvenzrecht geregelt aus dem Markt – und schafft so Raum für Neues. Sanierungsfähigen Unternehmen hilft es bei der Restrukturierung – und somit beim Neustart. Damit stärken Insolvenzen das Vertrauen in Unternehmen – in “guten wie in schlechten Tagen” – und somit in das Wirtschaftssystem insgesamt.

Weniger Unternehmensinsolvenzen durch Aussetzung der Insolvenzantragspflicht

Die Anzahl der Insolvenzen ist schon in normalen Zeiten ein wichtiger Indikator für die Wirtschaftslage. Umso wichtiger ist es, in Zeiten der Krise den Überblick zu behalten. Aus diesem Grund haben wir eine neue Datenbank mit tagesaktuellen Insolvenzdaten aufgebaut – und machen sie nun öffentlich zugänglich. Durch die Coronakrise kämpfen viele Unternehmen ums Überleben, aber die Unternehmensinsolvenzen sind im Pandemiejahr deutlich zurückgegangen (Figur 1). Der zentrale Grund dafür liegt auf der Hand: Die Insolvenzantragspflicht wurde am 27.03.20 rückwirkend zum 01.03.20 ausgesetzt (Infokasten unten). Damit sollte verhindert werden, dass durch die Pandemie unverschuldet in Not geratene Unternehmen Insolvenz anmelden müssen.

Figur 1: Die Insolvenzlücke im Pandemiejahr
Tägliche Unternehmensinsolvenzen in Deutschland vor und nach der coronabedingten Aussetzung der Insolvenzantragspflicht.

Insolvenzen steigen in besonders betroffenen Branchen stark an

Soweit der Plan. Ein genauerer Blick zeigt indes, dass sich die Insolvenzen über Branchen hinweg sehr unterschiedlich entwickelt haben. So ist die Anzahl der Insolvenzanträge vor allem in den Branchen gesunken, die vergleichsweise wenig von der Pandemie betroffen sind. Das zeigen unsere Daten (Figur 2). Im Bereich der Kfz-Werkstätten ist die Anzahl der neuen Insolvenzanträge zum Beispiel um mehr als 30 % gesunken. Dieser Rückgang ist erstaunlich, da die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht formal auf Fälle beschränkt ist, bei denen die Pandemie ursächlich für die finanzielle Schieflage ist. In Branchen wiederum, die stark von der Pandemie betroffen sind, sind die Insolvenzen trotz der Regulierungsänderung deutlich gestiegen. Im Fall der Reisebüros und Reiseveranstalter liegt der Anstieg der Insolvenzen bei über 180 %. Zweifellos läge die Anzahl der Insolvenzanträge in den betroffenen Branchen ohne die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht allerdings noch wesentlich höher.

Figur 2: Insolvenzlücke über Branchen
Unternehmensinsolvenzanträge 2. Quartal bis 1. Quartal 21 in Prozent des Vorjahres.

Vor allem liquidere Unternehmen melden Insolvenz an

Um zu überprüfen, ob sich Unternehmen, die in der Coronakrise Insolvenz anmelden, systematisch von den Insolvenzunternehmen vor der Krise unterscheiden, vergleichen wir die bilanzielle Liquidität der Unternehmen jeweils vor der Insolvenzanmeldung. Wenn die Regulierung verhindern würde, dass Unternehmen coronabedingt Insolvenz anmelden müssen, dann würden wir erwarten, dass die Liquidität von insolvenzanmeldenden Unternehmen in der Krise mit der von insolvenzanmeldenden Unternehmen vor der Krise vergleichbar ist. Dies ist nicht der Fall: Im Durchschnitt stellten im ersten Jahr der Coronakrise liquidere Unternehmen Insolvenzanträge (Figur 3). Dies zeigt, dass trotz der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht Unternehmen wohl coronabedingt Insolvenz anmelden mussten.

Auch hier lohnt sich der Branchenvergleich (Figur 4). Nur in wenigen Branchen verfügen insolvente Unternehmen während der Pandemie über eine geringere Liquidität als die insolventen Unternehmen im Vorjahr. Für diese Branchen liegt nahe, dass primär die Unternehmen dieser Branchen Insolvenzanträge gestellt haben, welche besonders starken Liquiditätsschwierigkeiten ausgesetzt waren, während an sich auch insolvenzgefährdete Branchenkollegen aufgrund der Aussetzung der Antragspflicht keinen Insolvenzantrag gestellt haben.

Figur 3: Liquidität insolventer Unternehmen
Liquide Mittel + Forderungen in Verhältnis zur Bilanzsumme Median und 95 %-Konfidenzinterval je Quartal.

Figur 4: Liquiditätsdifferenz insolventer Unternehmen
Unterschied Liquidität insolventer Unternehmen vor und nach COVID-19 in Prozentpunkten Bilanzsumme.

Eine Insolvenzwelle droht

Die Daten weisen auf ein zentrales Problem hin, das den Neustart der Wirtschaft nach dem Ende der Pandemie deutlich erschweren könnte: Es ist gut möglich, dass im vergangenen Jahr viele an sich zahlungsunfähige und überschuldete Unternehmen auf die Anzeige einer Insolvenz verzichtet haben. Auf diese Weise sind „Zombiefirmen“ entstanden, die nur noch auf dem Papier „lebendig“ sind. Die besondere Gefahr: „Zombiefirmen“ können auch gesunde Unternehmen, mit denen sie geschäftlich verbunden sind, „infizieren“. Sie stellen somit eine Gefahr für die Wirtschaft insgesamt dar.

Auch die Änderungen der Insolvenzaussetzungsregeln am Anfang dieses Jahres haben noch nicht dazu geführt, dass die Insolvenzen in den von der Pandemie wenig betroffenen Branchen wieder gestiegen sind. Es braut sich also augenscheinlich eine Insolvenzwelle zusammen, die das Wirtschaftssystem vor große Herausforderungen stellen wird. Des Weiteren steht zu befürchten, dass die entstandenen „Zombiefirmen“ das Vertrauen im unternehmensübergreifenden Handel beeinträchtigen können.

Die Größe der Insolvenzwelle ist schwer abzuschätzen, aber selbst eine konservative Schätzung, die von einem Insolvenzverhalten des Vorjahres ausgeht, kommt zu dem Ergebnis, dass das erste Pandemiejahr zu einer Insolvenzlücke von etwa 1.400 Unternehmensinsolvenzanträgen geführt hat. Das sind ca. 10 % der gesamten Insolvenzanträge. Zeit also, dem Problem ins Auge zu schauen. Wir hoffen, dass die Daten unseres Forschungsverbundes die aktuelle Insolvenzsituation sowohl für die Unternehmenspraxis als auch die Wissenschaft transparenter machen können.

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More Information

Die Daten basieren auf den offiziellen Bekanntmachungen, die von den Insolvenzgerichten in Deutschland auf der Website https://www.insolvenzbekanntmachungen.de veröffentlicht werden. Wir erfassen nur Anträge auf Unternehmensinsolvenzen, die entweder im Handelsregister, im Genossenschaftsregister oder im Vereinsregister veröffentlicht werden. Die Zuordnung von Unternehmen zu Branchen erfolgt auf Basis der Bureau van Dijk Orbis-Datenbank. Für ca. 85 % der Unternhemen konnten wir so die Branche bestimmen.

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