(Fehl-)Wahrnehmung der Einkommensteuerbelastung
Wissen Sie, wie hoch die Einkommensteuerbelastung bei einem Jahresbruttogehalt von 10.000, 35.000, 100.000 oder 500.000 Euro ist? Oder wie hoch sie bei Ihrem eigenen Gehalt ausfällt? Nein? Damit stehen Sie nicht alleine da. Eine Umfrage unter mehr als 500 Personen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass die geschätzte Steuerbelastung oftmals deutlich von der tatsächlichen Steuerbelastung abweicht. Das zeigt: Viele Anwender verstehen die Belastungswirkungen des deutschen Einkommensteuersystems nicht. Hierdurch basieren sowohl die ökonomische Entscheidungsfindung als auch die politische Meinungsbildung bezüglich der Themen Einkommensungleichheit und Steuergerechtigkeit oftmals auf falschen Vorstellungen. Mehr Transparenz ist dringlich geboten.
Die Umfrage wurde von Forscher*innen der Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit der wundertax GmbH im Zeitraum 19. Juni – 31. Juli 2020 durchgeführt. Insgesamt wurden 517 Personen mit überdurchschnittlich hoher Bildung befragt. Die Befragten mussten ihre eigene Einkommensteuerbelastung und die von Arbeitnehmern – unverheiratet, kinderlos, keine weiteren Einkünfte – unterschiedlicher Gehaltsgruppen – 10.000 €, 35.000 €, 100.000 € und 500.000 € brutto im Jahr – schätzen. Gefragt wurde sowohl nach der Durchschnittssteuerbelastung, also der zu zahlenden Einkommensteuer bezogen auf das Bruttogehalt, als auch nach der Grenzsteuerbelastung, also die Steuer, die auf ein zusätzlich erzieltes Bruttogehalt entfällt. Darüber hinaus sollten die Befragten die beiden Arten der Steuerbelastung für ihr eigenes Einkommen angeben.
Überschätzte Durchschnittssteuerbelastung
Die Durchschnittssteuerbelastung wird im Mittel über alle Einkommen um nahezu 6 Prozentpunkte überschätzt: 26,28 % (geschätzt) vs. 20,46 % (tatsächlich). Bricht man die Steuerbelastung allerdings auf die vier Bruttogehaltsgruppen herunter, stellt man fest, dass die Abweichungen erheblich variieren. Während für die beiden niedrigsten Gehaltsgruppen (10.000 € und 35.000 €) eine ausgeprägte Überschätzung zu beobachten ist, wird die Steuerbelastung für ein Bruttogehalt i. H. v. 500.000 € im Mittel um mehr als 4 Prozentpunkte unterschätzt.
Geschätzte und tatsächliche Durchschnittssteuerbelastung
Da sich bei den obigen Durchschnittswerten die Über- und Unterschätzungen zum Teil ausgleichen, wurden die Antworten auch nach den folgenden drei Kategorien ausgewertet:
- korrekt (die Abweichung zwischen geschätztem und tatsächlichem Wert beträgt nicht mehr als 5 Prozentpunkte),
- akzeptabel (Abweichung mehr als 5 Prozentpunkte, maximal 10 Prozentpunkte)
- Fehlwahrnehmung (Abweichung mehr als 10 Prozentpunkte)
Hier zeigt sich, dass die Antworten für die einzelnen Bruttogehälter immerhin im Mittel noch in 51 % der Fälle korrekte oder akzeptable Schätzungen beinhalten. Dieser Wert sinkt aber erheblich, wenn man die Schätzungen eines jeden Befragten für den „Tarifverlauf“, also die Schätzungen für alle vier Gehaltsgruppen betrachtet.
Qualität der Schätzung der Durchschnittssteuerbelastung
Schwierigkeiten bei der Schätzung der Grenzsteuerbelastung
Die Schätzung der Grenzsteuerbelastung, also der Steuerbelastung bei einer Erhöhung des Bruttogehalts um 1.000 €, bereitet den Befragten deutlich mehr Probleme als die Schätzung der Durchschnittssteuerbelastung. Knapp ein Viertel der Befragten nennt unrealistische Grenzsteuersätze (z. B. > 100 %). Von den übrigen rund 75 % der Befragten wird die Grenzsteuerbelastung ähnlich wie die Durchschnittssteuerbelastung bei einem Bruttogehalt i. H. v. 10.000 € auch erheblich überschätzt, während die Überschätzung bei einem Bruttogehalt i. H. v. 35.000 € nur äußerst gering ausfällt. Bei den beiden hohen Gehältern wird die Grenzsteuerbelastung dagegen deutlich unterschätzt.
Geschätzte und tatsächliche Grenzsteuerbelastung
Fehlwahrnehmung der eigenen Steuerbelastung
Bei der Schätzung der eigenen Durchschnitts- und Grenzsteuerbelastung kommt es ebenfalls zu gravierenden Fehlwahrnehmungen. Zu ihrer Durchschnittsteuerbelastung können fast 23 % der Befragten überhaupt keine Angabe machen. Die überwiegende Mehrheit überschätzt die eigene Belastung in noch stärkerem Maße, als dies bei den vorgegebenen Bruttogehältern der Fall ist. Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach der Grenzsteuerbelastung im Fall einer Erhöhung des eigenen Einkommens um 1.000 €: Nahezu 28 % der Befragten geben an, die eigene Grenzsteuerbelastung nicht einschätzen zu können. Jedoch unterschätzen diejenigen Befragten, die einen Wert angeben, die eigene Grenzsteuerbelastung im Durchschnitt nur geringfügig. Der Anteil der Fehlwahrnehmungen ist signifikant höher als dies bei den geschätzten Grenzsteuerbelastungen für die gegebenen Bruttogehälter der Fall ist.
Welche Steuerbelastung wird als angemessen empfunden?
Vor dem Hintergrund dieser Fehlwahrnehmungen stellt sich die Frage: Was empfinden die Befragten als eine angemessene Besteuerung? Vergleicht man die Angaben der Befragten hierzu mit den tatsächlichen Belastungen, ergibt sich ein gespaltenes Bild. Für die Bruttogehälter von 10.000 € und 35.000 € erachten die Befragten im Durchschnitt eine höhere Steuerbelastung als angemessen. Für die beiden höchsten Gehaltsgruppen (100.000 € und 500.000 €) plädieren die Befragten hingegen im Mittel für eine Steuersenkung. Verglichen mit der eigenen Wahrnehmung sprechen sich die Befragten im Mittel allerdings in allen vier Fällen für eine Steuersenkung aus.
Wahrnehmung einer angemessenen Durchschnittssteuerbelastung
Wann gehört man zu den Top 10 % bzw. Top 1 % der Einkommensbezieher?
Ab welchem Jahreseinkommen zählt man in Deutschland zu den 10 % der Bevölkerung mit den höchsten Einkommen? Ab wann zu den Top 1 %? Auch diese Frage wurde überwiegend falsch beantwortet. Die Befragten wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Gruppe A wurde darüber informiert, ab welchem Bruttoeinkommen man zu den Top 10 % zählt. Bei einer alleinstehenden Person liegt dieser Schwellenwert bei ca. 55.000 €. Gruppe B sollte diesen Schwellenwert hingegen schätzen. Dieser Wert wurde mit 120.000 € (Median) deutlich überschätzt.
Die Bruttoeinkommensgrenze der Top 1% mussten alle Befragten schätzen. Auch diese wird erheblich überschätzt: Gruppe A schätzt den Schwellenwert auf 250.000 €, und Gruppe B geht sogar von 500.000 € aus (Median), während der tatsächliche Wert bei ca. 133.500 € liegt.
Die Herausforderung von Fehlwahrnehmungen
Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Einkommensteuerbelastung in weiten Teilen falsch wahrgenommen wird. Da davon auszugehen ist, dass diese Fehlwahrnehmungen zu verzerrten Entscheidungen sowohl im ökonomischen als auch im politischen Kontext führen, stellen sich insbesondere drei Fragen: 1. Was sind die Ursachen für Fehlwahrnehmungen? 2: Welche Informationen sind notwendig, um steuerliche Fehlwahrnehmung zu reduzieren? 3. Wie sind diese Informationen aufzubereiten und über welche Kanäle sind sie zu kommunizieren?
Lesen Sie die Executive Summary „Wahrnehmung der Einkommensteuerbelastung“ von Karina Körösi, Martin Körner und Ralf Maiterth.
Zitation dieses Blogs:
Körösi, K., & Maiterth, R. (2021, Februar 1). (Fehl-)Wahrnehmung der Einkommenssteuerbelastung, TRR 266 Accounting for Transparency Blog. https://www.accounting-for-transparency.de/de/misperception-of-income-tax-burden/
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