Oktober 2021: Prof. Dr. h.c. Dr. h.c. Stefan Reichelstein, Ph.D.

Stefan Reichelstein, Direktor des Mannheim Institute for Sustainable Energy Studies an der Universität Mannheim, leitet das Projekt A04 “Accounting for Investments in Operating Assets“. Zusammen mit Anna Rohlfing-Bastian untersucht er, wie Accounting-Informationen eine transparente Entscheidungsgrundlage für betriebliche Investitionen schaffen können. Sein besonderes Interesse gilt der Erforschung der Kostenstruktur und der Wettbewerbsfähigkeit von dekarbonisierten Energieträgern. Bereits während seiner Zeit an der Stanford University lag dieses Thema im Zentrum seiner Forschung.

 

Accounting: alles dreht sich um Informationen

Als ich Doktorand in Managerial Economics an der Northwestern University war, brach eine wirklich aufregende Zeit für dieses Fachgebiet an. Die Informationsökonomie war gerade als ein neues Forschungsparadigma entstanden und wurde auf viele Teilgebiete der Wirtschaftswissenschaften angewandt.  Information und Informationsasymmetrie standen plötzlich im Fokus. Für mich eine neue, spannende Perspektive, die mich schließlich zum Accounting führte. Informationsasymmetrien zu modellieren, diese Modelle zu analysieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, hat mich sehr gereizt – und das tut es bis heute. Damals gab es auf diesem Gebiet noch jede Menge Pionierarbeit zu leisten. Denn Accounting ist traditionell sehr praxisorientiert und war zumindest zu der Zeit nicht sehr auf Modellierung ausgerichtet. Damals wie heute ist die Rechnungslegung in Bezug auf die institutionelle Beobachtung und die Verfügbarkeit von Daten in einer hervorragenden Lage. Heutzutage findet viel mehr Austausch zwischen Modellierung und empirischer Forschung statt. Das ist wichtig, um Modelle zu überprüfen und zu validieren – und somit letztlich für eine qualitativ hochwertige Forschung.

 

Wer als Forschender langfristig erfolgreich sein möchte, sollte sich genau überlegen: Mit welchen Themen und Fragestellungen kann ich einen nachhaltigen Beitrag leisten?

Einen Beitrag leisten

Manchmal beobachte ich, wie Forschende eher spontane Fragestellungen verfolgen. Sie stürzen sich in ein neues Gebiet, weil sie dort eine Chance auf einen Publikationserfolg sehen. Dieses Verfolgen von kurzfristigen Interessen halte ich allerdings für eine bedenkliche Strategie. Sie mag zwar dazu führen, dass man einmal in einer relevanten Fachzeitschrift publiziert. Wer als Forschender allerdings langfristig erfolgreich sein möchte, sollte sich vor allem genau überlegen: Mit welchen Themen und Fragestellungen kann ich einen nachhaltigen Beitrag leisten? Einen Beitrag, der für die Wissenschaftsgemeinschaft, für Praxis und Politik, für die Gesellschaft über mehrere Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte relevant ist. Forschung ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Man braucht Durchhaltevermögen und eine gewisse Frustrationstoleranz. Wir investieren viel Zeit in Fragen, deren Antworten wir nicht kennen. Es gibt viele Tage, an denen man resigniert nach Hause kommt und feststellt, dass man eigentlich keinen nennenswerten Fortschritt gemacht hat. Das liegt in der Natur unserer Arbeit. Es fällt allerdings wesentlich leichter damit umzugehen, wenn man ein stetiges Interesse an seinem Forschungsfeld hat und daran glaubt, langfristig etwas bewirken zu können.

 

Mir wurde klar: Wenn die Energiewende funktionieren soll, benötigen wir neue Modelle, die diese Kosten zuverlässig berechnen.

 

Dekarbonisierung: vom Hobby zur Berufung

Vor rund zehn Jahren wurde ich auf ein neues Forschungsfeld aufmerksam, das heute im Zentrum meiner Forschung steht: die Kostenstruktur und die Wettbewerbsfähigkeit von entkarbonisierten, also kohlenstoffarmen, Energieträgern. Damals begannen Politik und Öffentlichkeit vermehrt über die Energiewende zu diskutieren – und über die Kosten, die sie verursachen würde. Was mich aufhorchen ließ, waren die unterschiedlichen Schätzungen der Kosten. Diese lagen zum Teil Welten auseinander. Mir wurde klar: Wenn die Energiewende funktionieren soll, benötigen wir neue Modelle, die diese Kosten zuverlässig berechnen. Also begann ich, an solchen Modellen zu arbeiten. In meiner ersten Publikation entwickelte ich ein Modell, das errechnete, wie viel es ein Kohlekraftwerk kosten würde, die C02-Abgase aufzufangen, anstatt sie in die Atmosphäre zu leiten. Was für mich zunächst als eine Art Hobby begann, ist heute ein wesentlicher Schwerpunkt meiner Forschung. Und mittlerweile ist dieser Themenkomplex auch fest in der BWL und im Accounting angekommen. Immer mehr Forschende und wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten haben dieses Thema im Blick. Die Universität Mannheim zum Beispiel hat 2019 das Mannheim Institute for Sustainable Energy Studies (MISES) gegründet, das ich mitaufgebaut habe und leite.

 

Bessere wirtschaftliche Entscheidungen durch eine informativere Rechnungslegung treffen zu können, ist auch ein Grundgedanke des TRR 266 Accounting for Transparency.

 

Mehr Transparenz, bessere Entscheidungen

Bei meiner Forschung in diesem Bereich geht es auch um Transparenz. Die Kalkulationen und Modelle, die ich zusammen mit meinem Team entwickle, sollen die Kosten für die Energiewende transparent machen. Und sie sollen die einzelnen Akteure dabei unterstützen, gut begründete Entscheidungen zu treffen. Für die Politik beispielsweise ist es wichtig zu wissen, wie viel finanzielle Unterstützung erneuerbare, kohlenstoffarme Energieträger kurzfristig benötigen, damit sie sich langfristig am Markt durchsetzen und etablieren können. Unsere Modelle können zum Beispiel aufzeigen, ob und wann es sinnvoll ist, finanzielle Anreize in Form von Steuervergünstigungen oder Einspeisevergütungen zu setzen. Der Ansatz, bessere wirtschaftliche Entscheidungen durch eine informativere Rechnungslegung treffen zu können, ist auch ein Grundgedanke des TRR 266 „Accounting for Transparency“. Daher wollten wir, dass unsere Arbeiten in diesem Bereich ein Teil des TRR 266 sind.

 

Insbesondere geht es uns darum herauszufinden, wie der Wechsel zu einer Energiezukunft ohne fossile Energieträger beschleunigt werden kann.

 

Investitionsentscheidungen: Welche Informationen benötigen Entscheider?

Im TRR 266 leite ich zusammen mit Anna Rohlfing-Bastian das Projekt A04 „Accounting for Investments in Operating Assets“. Wir versuchen zu verstehen, welche Informationen Unternehmen, Regulierungsbehörden und Investoren benötigen, um Investitionsentscheidungen zu treffen, zu fördern und zu verfolgen. Wenn Unternehmen zum Beispiel eine neue Produktionsanlage bauen, stellen sich die folgenden Fragen: Wie sollen wir sie bilanzieren und ihren Wert in künftigen Jahren bemessen? Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen Rechnungslegungsregeln darauf, wie ein Unternehmen Kosten und Wirtschaftlichkeit ausweist? Die Forschung im Projekt A04 und meine Forschung im Bereich der Dekarbonisierung haben viele Berührungspunkte. Und genau an diesen Schnittstellen arbeite ich derzeit verstärkt. Insbesondere geht es uns darum herauszufinden, wie der Wechsel zu einer Energiezukunft ohne fossile Energieträger beschleunigt werden kann – und welche Anreize dafür erforderlich sind.

 

Unsere Untersuchungen in Texas und Kalifornien zeigen, dass Wind- und Solarenergie auf einem guten Weg sind und ihre Wettbewerbsfähigkeit stetig verbessert haben.

 

Neue Metrik: Wie wettbewerbsfähig sind erneuerbare Energien?

Vor kurzem haben wir eine neue Studie veröffentlicht, in der wir eine neuartige Metrik vorstellen: die sogenannten Levelized Profit Margins (LPM). Die LPM helfen uns, den Wirtschaftlichkeitsvergleich von kohlenstoffarmen und von fossilen Energieträgern zu quantifizieren. Die Metrik integriert unterschiedliche gegenläufigen Effekte, die beeinflussen, wie hoch die Umsätze und Kosten der unterschiedlichen Energieträger ausfallen. Während die Lebenszykluskosten von erneuerbaren Energieträgern immer günstiger werden, steigen die Kosten von fossilen Brennstoffen. Erneuerbare Energieträger sind in dieser Hinsicht also klar im Vorteil. Allerdings haben sie auch einen entscheidenden Nachteil: Sie sind nicht ständig verfügbar. Das kommt insbesondere während der sogenannten „Dunkelflaute“, die in vielen Regionen Deutschlands während des Spätherbstes droht, zum Tragen. Wenig Wind und wenig Sonne sorgen dafür, dass Wind- und Solarenergie nur bedingt erzeugt werden können. In diesen Phasen profitieren dann die fossilen Energieformen durch einen Preisaufschlag. Unsere Untersuchungen in Texas und Kalifornien zeigen allerdings, dass Wind- und Solarenergie auf einem guten Weg sind und ihre Wettbewerbsfähigkeit stetig verbessert haben. Denn ihre Gestehungskosten sind mittlerweile so stark gesunken, dass sie die temporären niedrigeren Erträge gut kompensieren können.

 

Wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit von Erneuerbaren geht, müssen wir auch über Energiespeicher sprechen.

 

Energiespeicher: Chance und Herausforderung

Wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit von Erneuerbaren geht, müssen wir auch über Energiespeicher sprechen. Sie könnten den großen Nachteil der Erneuerbaren auf lange Sicht ausgleichen. Nehmen wir zum Beispiel das Speichermedium Wasserstoff. Stromüberschüsse aus erneuerbaren Energien könnten in Zeiten geringer Energienachfrage genutzt werden, um mit Hilfe von Elektrolyse Wasserstoff zu erzeugen. Das Gas kann gespeichert und dann genutzt werden, wenn gerade nicht genug Strom durch Erneuerbare erzeugt werden kann. Die Speicherung von Energie ist allerdings eines der derzeit komplexesten Probleme. Die zentralen Fragen sind auch hier: Wie schnell können sich die Technologien und ihre Wirkungsgrade weiterentwickeln? Wie schnell werden sie wettbewerbsfähig? Auch damit beschäftigen wir uns zurzeit – unter anderem in der Studie „Cost dynamics of clean energy technologies“.

 

C02- Fußabdruck: Wir brauchen in dieser Hinsicht unbedingt mehr Transparenz und Vergleichbarkeit.

 

C02-Fußabdruck: Eine Metrik für mehr Transparenz

Eine weitere Frage im Zusammenhang mit der Energiewende, die uns beschäftigt, ist folgende: Wie sollte man den C02-Fußabdruck von Unternehmen messen? Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren versprochen, diesen zu verringern. Diese Versprechen machen die Unternehmen derzeit allerdings noch freiwillig – und daher gibt es auch noch keine verbindlichen Standards, die festlegen, wie man den C02-Fußabdruck misst und ausweist. Daher haben viele Unternehmen damit begonnen, ihre eigenen Metriken zu entwickeln. Da jedes Unternehmen also derzeit noch sein eigenes Süppchen kocht, sind die veröffentlichten Zahlen weder vergleichbar noch wirklich aussagekräftig. Das legen wir auch in einer aktuellen Studie dar. Wir brauchen in dieser Hinsicht unbedingt mehr Transparenz und Vergleichbarkeit.

 

*Die im Beitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung des Forschenden wieder und entsprechen nicht grundsätzlich der Meinung des TRR 266. Als Wissenschaftsverbund ist der TRR 266 sowohl der Meinungsfreiheit als auch der politischen Neutralität verpflichtet.

**In diesem Beitrag wird ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit teilweise auf die geschlechtsspezifische Schreibweise verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Researcher of the Month August

Beteiligte Institutionen

Die Hauptstandorte vom TRR 266 sind die Universität Paderborn (Sprecherhochschule), die HU Berlin und die Universität Mannheim. Alle drei Standorte sind seit vielen Jahren Zentren für Rechnungswesen- und Steuerforschung. Hinzu kommen Wissenschaftler der LMU München, der Frankfurt School of Finance and Management, der Goethe-Universität Frankfurt, der Universität zu Köln und der Leibniz Universität Hannover, die die gleiche Forschungsagenda verfolgen.

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